hna

Raus aus der Komfortzone 

Von Bettina Fraschke 

„Die Jungfrau von Orleans“ am Kasseler Staatstheater 

Kassel. Johanna ist ein Katalysator. Die Jungfrau mit göttlichem Kriegsauftrag macht die Franzosen siegestoll, pusht sie vor der Schlacht in einen Blutrausch. Sie lässt aber auch den König greinen vor Versagensangst, er fühlt sich von ihr erkannt. 

Bei den feindlichen Engländern weckt sie Sexfantasien mit dieser seltsamen Jungfrau in Springerstiefeln, Jeans und Kettenhemd. 

Was passiert, wenn in unsere Welt ein Mensch hineinprallt, den irdische Bindungen nicht interessieren und der sich in seinem Handeln auf unhinterfragbare höchste Instanzen beruft? Gustav Rueb legt in seiner überzeugenden Inszenierung von Friedrich Schillers romantischer Tragödie „Die Jungfrau von Orleans“ am Kasseler Staatstheater den Schwerpunkt auf diese Konfrontation – und rückt damit den fremden kriegerischen Stoff verstörend nah an uns heutige Menschen heran: Wie dringend wünschen wir so eine Absolutheit – und wie schwer können wir aushalten, wenn jemand wie Johanna sie mit voller Wucht verkörpert? Begeisterter Applaus bei der Premiere am Samstag im Schauspielhaus. 

Eva Maria Sommersberg ist diese Johanna d’Arc, das französische Provinzmädchen, das den göttlichen Auftrag verspürt, gegen die Engländer in den Krieg zu ziehen, und dafür verehrt und verachtet wird. Mit spürbarer Liebe legt sie die Riesenrolle an – wechselt in feinen Nuancen zwischen tränenerstickter Scheu, göttlich durchfluteter Klarheit, an Arroganz grenzendem Machtanspruch und kalter Feldherrnpose. 

Als Johannas Herz wie mit einem Schwertstreich von der Liebe zum Engländer Lionel (Björn Bonn) durchbohrt wird, stürzt Sommersberg auch uns mit in ihre Seelenabgründe. In einem Kampf der inneren Stimmen kriecht sie am Boden und ringt um die verlorene Zuversicht. 

Florian Ettis Bühne ist kahl, das Licht auf metallisch-graue Platten und Stahlträger gleißt unbarmherzig grellweiß. Mit Schrägen und Podesten werden verschiedene Raumeindrücke erzeugt. Johannas Visionen laufen als Kitschvideos in Heiligenbildchen-Ästhetik. 

Ein toller Regiekniff ist Ruebs Idee, Franzosen und Engländer von denselben Schauspielern verkörpern zu lassen - mal mit Langhaarperücke, mal kurz geschoren und mit tätowierten Armen (Kostüme: Ulrike Obermüller) vermischen sich auf immer wieder komische Art die Typen im Kampfgeschehen, radebrechen mit französischem Akzent, pöbeln auf Englisch („Frog-Eater!“), heizen zu Punkmusik die Kampfgier an und zelebrieren die Schlacht in choreografierter Superzeitlupe wie in einem asiatischen Kampffilm. Mit viel Kunstblut. 

Gegenpol zu den Kriegern, die Björn Bonn, Matthias Fuchs, Bernd Hölscher und Thomas Meczele spielen, ist Anke Stedingk, die die Königsgeliebte Agnes in weicher Weiblichkeit und die Königsmutter Isabeau als Tyrannin mit Grabesstimme anlegt. 

Christoph Förster ist ein witziger Bote, Jürgen Wink Johannas Vater, der ihre Fremdheit nicht aushält und sie als teuflisch diskreditiert. 

Und Alexander Weise: Sein Porträt des schwächlichen Königs Karl VII. steht für Ruebs Blick auf Johannas (heutige) Gegenüber und ist phänomenal. Zerstreuungssüchtig fädelt er sich stets in die vorherrschenden Stimmungen ein. Er will berührt werden, aber Hauptsache, es geht dabei bequem zu. Weder der Entscheidungsdruck noch die Heilige sollen ihn, bitteschön, aus der Komfortzone holen.