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Im Dickicht der Städte – oder Brecht für Anfänger 

Von Bernd Pfeifer 

Am 24. Januar feierte die Brecht-Inszenierung Im Dickicht der Städte in den Lübecker Kammerspielen ihre Premiere. Verantwortlich zeichnete an dieser Stelle Gustav Rueb, der die Regie führte. Willkommen in der Welt des Bertolt Brecht! 

Dieses Werk bot dem jungen Brecht die Möglichkeit, sich im Genre des Dramas auszuprobieren und - inspiriert durch schriftstellerische Vorlagen sowie eine Berlin-Reise - ungewöhnliche Verknüpfungen herzustellen. Wie es beim Sich-Ausprobieren eben vorkommen kann, hat sich Brecht drei Jahre (1921 – 1924) Zeit gelassen, bis er mit der Endfassung zufrieden war. Die Uraufführung der ersten Fassung hatte 1923 in München auch gleich einen handfesten Eklat zur Folge. 

Das Stück hat das große Thema: „die Großstadt als alles und jeden verschlingenden Dschungel.“ Die Handlung, so man sie überhaupt als Handlungsstrang sehen kann, ist schnell erzählt: Im Chicago des frühen 20. Jahrhunderts, eine der neu entstandenen Mega-Cities, wo Menschen zu reinen Produktionsfaktoren verkommen und sich Familienbande schneller als anderswo in Luft auflösen können, dort also prallen wie zufällig ein Bibliotheksangestellter, mit hohen Idealen gestartet, und ein Holzfabrikant, schon längst bar jeglicher Illusionen, aufeinander. Es kommt zu einer Art Zweikampf, der in der Frage gipfelt: „Wieviel kostet ein Mensch, was kostet es, ihm seine Ideale abzukaufen?“. Und hier wird es allegorisch, denn der Reiche bietet dem Habenichts den Rollentausch an. Alles weitere und alle weiteren Personen, ob Familienmitglieder oder „zufällig“ auftretende Akteure, stoßen sich beim Aufeinandertreffen oder in ihren Dialogen quasi wie Kugeln in einem Flipperautomaten an, um immer wieder neue Szenen zu generieren. Doch alles entzieht sich einem Handlungsmuster. 

Brecht versteht es, die Vereinzelung des Homo sapiens - der sich seine Werte nach Bedarf zurechtzimmert - in solch einer menschenfeindlichen Umgebung auf die Spitze zu treiben. Obwohl also Bertolt Brecht ohne jeglichen Wertekanon auskommen möchte, spielt christlich-religiöser Input doch auch eine Rolle, denn durch das Auftreten eines Heilsarmee-Offiziers und ein intoniertes „Ave Maria“ während eines angedeuteten Selbstmordes wird der Zuschauer daran erinnert, dass es da vielleicht noch mehr geben könnte. 

Dennoch: es bleibt konsequent, Handlung besteht hier nur aus verdichteter Kommunikation – und das ist brillant ausgedacht als auch aktuell inszeniert. Die Logik oder die „Moral von der Geschicht‘“ sucht man vergebens. Um am Stück „dranzubleiben“ weist die Lübecker Fassung eine Video-Installation auf, so dass der Betrachter das volle Leben des Chicagos der 20er Jahre zu etwa 1/3 über die „Neuen Medien“ präsentiert bekommt. Und auch die Schauspielkunst aller Beteiligten bis in den letzten Dialog hinein führt zu einem runden und positiven Gesamteindruck dieses Dramas. Brecht lässt in all den Versatzstücken in diesem Opus kaum einen der menschlichen und ja auch zeitlosen Abgründe aus. Und am Ende werden sich Garga, der Bibliotheksangestellte und Shlink, der Holzfabrikant, nicht mehr bekämpfen, es kommt zu einem philosophischen Austausch - und alles bleibt im Nebulösen. 

Wer das Happy End oder den Sinn hinter dem Ganzen sucht, bringt sich um zwei Stunden hervorragender Aneinanderreihung von Szenen aus dem vollen Leben, die wiederum zu Fragen beim Zuschauer führen können, welche auch ein Brecht nicht denken konnte. Und um noch einmal auf den Nebel zu kommen: das ist in diesem Fall der Inszenierung wörtlich zu verstehen, denn Rueb lässt die Nebelmaschinen ganze Arbeit leisten. Für etliche Minuten fehlt allen in den Lübecker Kammerspielen der Durchblick. Die kalten Schwaden des Chicagoer Michigansees wabern von der Bühne herauf und erfassen sowohl Akteure als auch sämtliche Zuschauer. Sollte die Figur des Garga autobiographische Züge von Brecht zum Ausdruck bringen, wie von etlichen Kritikern vermutet, so macht einen das Finale frösteln. 

Doch zum Glück, so mag mancher denken, "es ist ja nur ein Spiel!“.