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Ibsens Nora: Eichkätzchen im Setzkasten 

Der norwegische Dramatiker Henrik Ibsen (1828-1906) galt und gilt als Vorkämpfer der Emanzipation der Frau. Ob seine Themen heute noch aussagekräftig sind, kann man in den Lübecker Kammerspielen überprüfen. Am Sonnabend hatte dort sein Schauspiel "Nora" Premiere. 

"Nora oder Ein Puppenheim" hieß das Stück in der alten Übertragung von Richard Linder. Auf dem Lübecker Programmheft steht nur der Name "Nora", und gespielt wird die neuere Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel. Das Puppenheim hat ganz offensichtlich den Bühnenbildner Peter Lehmann zur Gestaltung der Szene angeregt. 

Vorn an die Rampe stellte Lehmann eine zweistöckige Puppenstube. Wie in einem Setzkasten sind die Räume angeordnet, in jeder Etage zwei größere, ergänzt durch Duschkabine und das Arbeitszimmer des Hausherrn Torvald Helmer. Türen fehlen total. Rück- und Seitenwände sind aus langen Bahnen zusammengesetzt. Die Figuren zwängen sich durch Schlitze zwischen den Planen. Möbel sind kaum vorhanden. Ein Stuhl, der Laufstall der Kinder, ein verkrüppelter Weihnachtsbaum – das ist alles. Das Ganze ist in blendendes Weiß getaucht, kann dadurch auch als Leinwand benutzt werden. Von Zeit zu Zeit trennen stille, stumme Bilder mit Filmsequenzen die Szenen. 

Regisseur Gustav Rueb arbeitet sehr bewusst mit dem Licht. Zu Beginn sofort gleißende Helle. Immer wieder werden die Auftritte abrupt beendet. Im Film würde man von harten Schnitten sprechen. Auffällig von Anfang an: Die Personen leben nicht miteinander, sondern nebeneinander her. Nora und ihr Ehemann Torvald reden in verschiedenen Zimmern, obwohl sie sich unterhalten. Auch räumlich, nicht nur geistig liegen Welten zwischen ihnen. 

Ibsen führt in diesem vor 135 Jahren uraufgeführten Stück eine Ehe vor, in der Nora in acht Jahren nie ernst genommen wurde. Sie schwirrt als Vögelchen durch die Räume. Drei Kinder hat Nora geboren; die Erziehung übernimmt das Kindermädchen. Das Eichkätzchen (Lieblingsbezeichnung ihres Mannes) nascht, wirft mit Geld um sich, was der Ehemann tadelt, aber doch duldet. Nora braucht Geld, um Schulden zurückzuzahlen, die sie heimlich machte, um ihrem Mann einen lebenswichtigen langen Kuraufenthalt im Süden zu ermöglichen. Angeblich hatte sie geerbt, in Wirklichkeit war das Geld geliehen, durch eine falsche Unterschrift verbürgt. Damit beginnt das Verhängnis. Obwohl die Katastrophe abgewendet werden kann, steigt Nora aus. Sie hat begriffen, dass sie zu sich selbst finden muss und geht. 

Der Regisseur führt mit viel Phantasie durch die Szenen. Nicht jeden Spielzug versteht man auf Anhieb. Muss man das? Warum stolpert, zum Beispiel, Hausfreund Doktor Rank mit heruntergelassenen Hosen durch die Gegend? Vermutlich um intime Nähe anzudeuten. Aber geht das nur in Sockenhaltern? Dass Noras Jugendfreundin Kristine sich in andere Kostüme zwängt, mag andeuten, dass sie aus ihrer Haut fahren möchte. Kindermädchen und Kinder agieren stumm. Um sie geht es nicht. 

Bei der Personenführung gelingen Rueb stimmige Charaktere. Agnes Mann als Nora schwirrt bis kurz vor dem Schluss als ängstliches, unsicheres Vögelchen durch ihre Käfige. Um ihren Emanzipationswillen deutlich zu machen, braucht sie am Ende nicht aufzutrumpfen. Ein Schuss Nüchternheit reicht aus. Jan Byl als Bankdirektor Torvald Helmer ist die Rechtschaffenheit in Person, aus innerer Überzeugung angepasst. Sein Ekel vor Verstößen gegen die Norm ist so groß, dass er sich nach Gesprächen über derartige Themen körperlich reinigen und unter die Dusche muss. Thomas Schreyer (Doktor Rank) tanzt als Todkranker auf dem Vulkan. Charlotte Puders Kristine wurde vom Leben derart übel mitgespielt, dass sie körperlich verkrampft, um seelische Verletzungen anzudeuten. Als Ausbund des Bösen, von Schicksal und Schuld ins Unglück gestürzt, zeichnet Henning Sembritzki den Rechtsanwalt Krogstad. Serafine Garbe (Kindermädchen) dringt als stummes Gewissen durch die Mauern. 

Ist der Stoff noch modern? Gustav Rueb weist auf eine besonders deutliche Parallele zur Gegenwart hin. Man tanzt ums "goldene Kalb", ums Geld, hat Angst vor dem Verlust von Arbeit und Wohlstand. Wenn man sich in Europa umschaut, ist das zweifellos aktuell. Aber auch Ibsens "eigentliches Anliegen" ist nicht vom Tisch. Was zum Beispiel der türkische Staatspräsident in diesen Tagen zum Thema Gleichberechtigung oder Gleichwertigkeit von Mann und Frau gesagt hat, spricht Bände. Gilt das nur in den vom Islam geprägten Ländern? Ein nachdenkliches Publikum nahm die Aufführung mit viel Beifall auf. Erfreulicherweise saß viel junges Publikum im Parkett.