Nachtkritik

Jenseits von Fukuyama – Gustav Ruebs Uraufführung von Thomas Köcks geschichtsphilosophischer Farce am Theater Osnabrück 

Geschichte und kein Ende 

von Tim Schomacker 

Zunächst gibt es für alle weiße Laborkittel. Was die verschiedene Interpretation von Premierengarderobe angenehm einebnet in einem seitlich mit weißen Leinwänden verhängten, im Wesentlichen von Schwarzlicht beleuchteten Bühnenraum. Da steht man dann erst einmal drin. Hat einen Kittel an und darf sich auf die wenigen kleinen weißen Kuben nicht setzen. 

Stehen bedeute Glück, säuselt eine sanfte Altstimme aus den Lautsprechern. Darüber Sphärisches. Wie in ein New Age-Seminar wird man hineingestoßen in diese Uraufführung. Oder wie in eine Andeutung davon. Freiheit, Geld, Blausiegel, Depression – Worte wie diese sagen dann die sechs Akteure durch den Raum, auf dessen verhängten Wänden sie auch zu lesen sind. Das Sextett trägt ebenfalls laborweiß. Auf jedem Rücken das Logo eines fiktiven Glücksforschungsinstituts. 

In einer solchen zugleich freiwirtschaftlichen wie wissenschaftlichen Einrichtung siedelt der in Berlin lebende Österreicher Thomas Köck sein Stück "Jenseits von Fukuyama" an. Das Stück wurde mit dem Osnabrücker Dramatikerpreis ausgezeichnet. Köck spielt darin (wenn auch lose) jene Thesen vom "Ende der Geschichte" durch, mit denen der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama vor gut zwanzig Jahren (und also nach diversen Mauerfällen) für einige Aufregung sorgte. Wohl weil diese Thesen vom endgültigen Globalerfolg des politischen und ökonomischen Liberalismus streng geschichtsphilosophisch gedacht waren, schicken Köck und sein Erstregisseur Gustav Rueb einige Male das Wort "Sinn" durch den Raum. Gesprochen in Reihe von einem irgendwie zerbrochenen Chor, der zwar akkurat reiht, sich aber zu einer gemeinsamen Stimme nur selten aufschwingt. 

Couch-Schrankwand-Fernseher-Ensemble-Verbildlichung 

Im Institut für Glücksforschung, so der Plot, ist eine Assistenzstelle frei. Der karriereverbissene Peer (Stefan Haschke verleiht ihm angemessene Dampfdruckkesseligkeit) konkurriert mit der wimperklappernden Julia (Andrea Casabianchi) und Finn, für den Orlando Klaus ein ganzes Fuder Mittelbau-Gesichtsausdrücke und -gesten parat hat. Just während des Auswahlverfahrens sind Instituts-Interna nach draußen gesickert. Also: Ge-leakt worden. Daten, auf denen der Erfolg von Dr. Phektas Institut gründet. Durchschnittswerte, die einerseits so begehrt und gefährlich sind, dass sie nicht nach draußen dringen dürfen. Und sich andererseits in genau jenem Couch-Schrankwand-Fernseher-Ensemble auf der Bühne verbildlichen, auf das man ziemlich genau so auch getippt hätte. Als so genannter Durchschnittsraum, an und in dem sich die durchschnittlichen (und also am besten verwertbaren) Ängste messen lassen. Warum nun nach dem Durchsickern dieser "Geheiminformation" über diesen gewissermaßen invertierten Room 101 aus Orwells "1984" ein Aufstand an die Institutsmauern heranbrandet, ist schwer nachzuvollziehen. Viel mehr als die zielgerichtete Stimulation der Mehrheit zum Erhalt des für manche ertragreichen Status quo hat "Jenseits von Fukuyama" nicht zu bieten. 

Ebenfalls – wenn auch besser dosiert – unentschieden ist Köcks dramatische Haltung. Hier reckt und streckt und kalauert sich der Text in Jelineksche Richtung, dort stehen Figuren so gar nicht postdramatischen Zuschnitts vor uns. Eine dramatische Gespanntheit, die zu selten ihren Reiz in der Nichtkompatibilität von Einzelbiographie und großer Erzählung findet. 

Schön neben der Spur betont 

Inzwischen haben wir auf den Sitztribünen Platz nehmen dürfen, einige haben sich der Kittel entledigt. Eigentlich schade, dass Regisseur Gustav Rueb die anfängliche Eingemeindung zugunsten der klassischeren Betrachtung zurückschraubt. Gleichwohl holt Rueb aus Köcks Text einiges heraus: Oliver Meskendahl etwa lässt er in einer zirzensischen Zwischenbildfolge, die gut ein wenig trashiger noch hätte ausfallen können, die Geschichte der Erforschung der elektrischen Stimulation des Lustzentrums referieren, um ihn kurz drauf als "Die 90er" in einem Streitgespräch mit "Die Geschichte" den Text schön neben der Spur betonen zu lassen. Oder den Chor, der sich Peer beim Auswahlgespräch mit der Chefin geradezu auf den Schoß lümmelt. Um all das zu sagen, was Peer selbst zu sagen nicht in der Lage ist. Denn er will ja den Job. Und so – nur mit Worten – zugleich ein innermonologisches Beiseite und einen ganzen gestisch-mimischen Strasberg-Apparat ergänzt. Zusammen mit einigen analytisch-albernen Wortketten Köcks zeigen diese Bilder, dass hier mehr drin gewesen wäre. Vielleicht ohne den Umweg über Fukuyama.