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Die Flut steigt immer weiter

Start des 36. Heidelberger Stückemarkts: Ulrike Syhas Drama "Drift" im Zwinger 1 uraufgeführt - Dunkle Unterströmungen

Einen Rechtsruck in der Gesellschaft konstatierte der Heidelberger Intendant Holger Schultze bei der Eröffnung des Stückemarkts. Und einen solchen kann man auch im Auftaktstück "Drift" erkennen. Im Bild zeigen die Menschen jedoch nicht den Hitlergruß, sondern sehen das Heil in einer Kamera, die ihr entwurzeltes Leben aufzeichnet. Foto: S. Bühler

Von Heribert Vogt

Heidelberg. Wie Strandgut auf dem Meer treiben und wirbeln sie dahin, begegnen sich kurz und verlieren sich rasch wieder. Die Menschen in Ulrike Syhas Drama "Drift", das in der Inszenierung von Gustav Rueb zum Auftakt des Heidelberger Stückemarktes im randvollen Zwinger 1 uraufgeführt wurde, leben entwurzelt in einem winzigen Ort an der Küste. Dort ist nur eines sicher: Die Flut steigt unaufhörlich an.

Aber es ist nicht nur der immer höhere Meeresspiegel, der für die Bewohner eine finstere Bedrohung darstellt, sondern auch der soziale Zusammenhalt ist stark unterspült. Zudem überfluten Menschenmassen aus der Großstadt den scheinbar idyllischen Flecken. Und längst rollt eine Gegenwelle der Fremdenfeindlichkeit durch den Ort. Ganz abgesehen davon schwappen die großen Wogen des Digitalisierungszeitalters über das schwankende Miniwunderland am Meer.

Syhas Stück "Drift", das uns Heutige auf mancherlei Strömungen unkontrolliert dahintreiben lässt, stellt eine Diagnose für die Gesellschaft der Gegenwart. Gezeigt wird eine diffuse Grundangst vor der Flut, die scheinbar von überall kommen kann. Durch die Wassermassen des Meeres, aber auch durch die ausufernde Zivilisation, den Zuzug großer Flüchtlingsströme oder die zunehmende Komplexität des Lebens, in dem von "maritimer Leichtigkeit" nichts zu spüren ist. Zugleich zerfließen die sozialen Strukturen.

Das alles spielt sich ab um den "Seekrug", die lokale Kneipe (Bühne und Kostüme: Peter Lehmann). Dort residieren drei ältere Damen - die "Mitte der Gesellschaft" -, und sie schwadronieren drauf los, was das Zeug hält. Agatha (Christina Rubruck), Almuth (Elisabeth Auer) und Claire (Nicole Averkamp) geben einen wilden Aufriss des Küstenstädtchens, Verschwörungstheorien und Spekulationen über ein Mordkomplott inklusive. Aber so wird wenigstens eine kohärente Lebenswelt konstruiert.

Tatsächlich ist die so übersichtliche Menschengemeinschaft unendlich zerfallen. Trotz ihrer wenigen Mitglieder ist kaum zu erkennen, wer mit wem wann und wo wie verbunden ist. Und das, obwohl der Bürgermeister (Olaf Weißenberg), die Hobbygärtnerin (Rubruck), die Frau des Strandwarts (Averkamp), der Sohn des Kaninchenzüchters (Daniel Noël Fleischmann) wie auch eine aus der Fremde zurückkehrende Frau (Lisa Förster) zu Wort kommen - die Teile des wirren Puzzles passen nicht zusammen.

Daran ändert auch der Architekt Friedrich (Marco Albrecht) nichts. Er ist vor einst bei der Durchreise aus der Großstadt im Ort geblieben, hat sich ausweglos im Beziehungs-Chaos verheddert, und nun "hängt er irgendwie in allem drin". Aber sein Sohn Fritz (Fleischmann) versucht als Digital Native sehr geschmeidig, mal kurz die Miniwelt am Meer zu retten und mit der Maxiwelt des Globalisierungszeitalters zu verbinden.

Oberflächlich jedoch bleibt die Kleinstadt im Szenario zwischen dem "ewigen Gestern des Weltmeeres", dem auftauchenden "Turbokapitalismus am Horizont" oder aufmarschierenden "Ökofaschisten" ein kleiner touristischer Freizeitpark mit Hotels, durch den mitunter eine Gruppe schräger Jogger dackelt und wo auch "Ferienhäuser eine Seele haben können".

Aber schon die Videosequenzen (Alexander Ebeert) sprechen eine andere Sprache, denn sie zeigen auf der Projektionsfläche zerschnittene Gestalten. Und Architekt Friedrich stellt fest: "Das Meer frisst an uns" - sogar "in uns drinnen". Schließlich ist auch wirr von "Hitlers Aufstieg und Fall", von "Barbaren aus der Steppe" sowie "Bürgerwehren" die Rede, während die Menschen "dem Hintergrundrauschen des Universums lauschen". So schaukelt und tanzt die Gesellschaft auf dunklen Unterströmungen gefährlich dahin, bevor es am Ende ernüchternd heißt: "Die Drift wird jeden Tag stärker." - Starker Applaus.