Opus Kulturmagazin

Ein milliardenschwerer Racheakt

Ein wahrer Schauspiel-Klassiker betritt die Bühne des Saarländischen Staatstheaters: Dürrenmatts tragische Komödie „Der Besuch der alten Dame“ feierte am 19.9. Premiere im Großen Haus.

Vor mittlerweile 65 Jahren wurde das Stück in Zürich uraufgeführt. Doch die Handlung ist zeitlos und so müssen sich die Zuschauer:innen im Staatstheater erst gar nicht in eine andere Zeit oder an einen anderen Ort versetzen, denn mit Betreten des Saals werden sie automatisch Teil des in der Gegenwart angesiedelten Geschehens. Auf der Bühne wird noch der Boden gebohnert und der höchst nervöse Bürgermeister (wunderbar ironisch gespielt von Raimund Widra) gibt Anweisungen an die Technik, die rasch die Präsentation zur Ankunft der alten Dame, der berühmten Milliardärin Claire Zachanassian, fertigstellen solle. Denn es ist höchste Zeit: Die frühere Bürgerin der Stadt – heute eine Frau von Welt – wird für einen Besuch erwartet. Ganz uneigennützig ist die Vorfreude nicht. Als sich der Saal schließlich verdunkelt und der Bürgermeister alle Anwesenden auf das anstehende Spektakel einstimmt, wird schnell klar: Die Kleinstadt, in der wir uns beanden, ist hoch verschuldet, die Automobilindustrie abgewandert, die Stahlindustrie am Ende. Dieses Stück spielt offenbar nicht in Güllen, wo Dürrenmatt es einst angesiedelt hatte.

Doch wie die alte Zachanassian davon überzeugen, dass sie ihr Vermögen in die frühere Heimat investieren, besser noch: es ihr schenken solle? Alle Hoffnung ruht auf Alfred Ill (Gregor Trakis), der Jugendliebe der alten Dame. Und tatsächlich: Als die Zachanassian (Verena Bukal) dann endlich ankommt – Generalintendant Bodo Busse hatte sie höchst persönlich vom Flughafen abgeholt – und sie Ill gegenübersteht, scheint der Plan aufzugehen. Gemeinsam besuchen sie Orte, an denen einst die junge Liebe ihren Anfang nahm. Großes Kino bieten die Emotionen in der Mimik Verena Bukals: die Erinnerungen an die erste Liebe, Rührung, eine eirtende Wiederannäherung. Der Kinderchor begrüßt sie mit dem lokalpatriotischen „Saarbrigger Lied“ und die Würdenträger der Stadt heißen die Alte Dame ungelenk, aber doch charmant nostalgisch willkommen. Ein geglückter Auftakt? Die Zachanassian durchkreuzt den Plan. Zwar ist sie bereit ganze 10 Milliarden zu spenden, doch es gibt eine Bedingung: Alfred Ill soll sterben. Der Racheakt sei lediglich eine Widerherstellung von Gerechtigkeit: Als die 17-jährige Zachanassian (damals noch Klara Wäscher) schwanger wurde, leugnete Ill vor Gericht die Vaterschaft und stiftete zwei junge Männer zu der Falschaussage an, auch sie hätten mit „Kläri“ geschlafen. Diese war somit entehrt, gedemütigt und musste mittellos und hochschwanger die Stadt verlassen. Das Kind starb nach einem Jahr, die Mutter war gezwungen sich zu prostituieren. Auch den Schmerz, die Rachegelüste und zugleich die verletzte Seite der abgewiesenen jungen Verliebten kommuniziert Bukal eindrucksvoll mit und ohne Worte.

Nun beginnt das Spektakel. Denn die Bürger:innen der Stadt lehnen das Angebot zwar entrüstet ab, doch schon in den folgenden Tagen verändert sich etwas... Man kauft, schreibt an, macht Schulden. Man konsumiert. Man gönnt sich was. Doch mit welchem Geld? Die Verwandlung ist regelrecht sichtbar: Die Kostüme (Dorothee Joisten) erblühen von anfänglichem Beige in Beige, vom „Alltagsgrau“, hin zu grellen Farben, neuen Stilen und der Individualität, die zu Beginn des Stücks nur der alten Dame und ihrer extravaganten Entourage vorbehalten waren. Von neuen Schuhen, die plötzlich alle tragen, über Smartphones, Videospielkonsolen und kulinarischen Hochgenuss bis hin zu einer neuen Glocke für die Kirche und großen städtebaulichen Plänen für das Messegelände und den Osthafen – es scheint keinen einzigen Menschen mehr in der Stadt zu geben, der seinem ärmlichen Zustand nicht enteiehen will. Fragt Ill nach, so wird ihm versichert niemand hätte die Absicht auf das Angebot der Zachanassian einzugehen. Doch kann er das noch glauben? Lediglich der Lehrer (authentisch: Bernd Geiling), als Personiakation der Moral, verurteilt das Treiben. Sich selbst davon ausnehmen, kann er aber nicht. Ganz wie Dürrenmatt im Nachwort der Erstausgabe des Dramentextes offenbarte: „Geschrieben von einem, der sich von diesen Leuten durchaus nicht distanziert und der nicht so sicher ist, ob er anders handeln würde.“ Und so kann sich auch das Publikum fragen, wo man die moralische Grenze ziehen sollte, wie weit man für den eigenen Wohlstand gehen würde – als Individuum und kollektiv als Gesellschaft.

Ein höchst philosophisches Sujet, das mit viel Witz und Gegenwartsbezügen unterhaltsam auf die Bühne gebracht wird. Die Stadt Saarbrücken wird gleich mehrfach eingebunden: Nicht nur, dass sie in Text und Videoauszügen als Ort des Geschehens gewählt wurde. Auch der Theaterraum – inklusive Publikum, Kronleuchter und Deckenfresko – ist Teil der Kulisse, weshalb die Bühne selbst nur spärlich gestaltet wird (Bühnenbild: Florian Barth). Die Bürgerinnen und Bürger, wie sie bei Dürrenmatt heißen, sind übrigens genau das: Mitwirkenden der Theaterwerkstatt Ensemble4. Ihre Darstellung bietet kurze Einblicke in die Wünsche Saarländischer Bürger:innen und leichte Dialekt- und Akzent- Eineüsse sorgen für eine authentische Abbildung des hiesigen städtischen Lebens. Großartig auch der Kinderchor unter der Leitung von Mauro Barbierato, der erst in beschwingter Dorffest-Manier, später gespenstisch den nahenden Tod verkündend die jeweilige Atmosphäre untermalt.

Was wird nun letztlich aus Ill? Zahlreiche Deutsch-Abiturient:innen und erst recht das belesene und erfahrene Theaterpublikum wissen es. Aber es vor Ort mitzuverfolgen, ist den Besuch im Saarländischen Staatstheater durchaus wert. Das Publikum war sich mit anhaltendem Applaus einig: eine äußerst gelungene Premiere.

Tanja Block