Donau Kurier

Urau􏰀ührung am Stadttheater Ingolstadt
„Die Nibelungen – Rang und Drang“ erö􏰀nen fulminant die Spielzeit

Anja Witzke 12.10.25

„Das ist unsere Gegenwart. Hier sind alle großen Probleme im kleinen Kreis“, sagt Sabrina zu Viktor. Ziemlich am Anfang ist das, als sie auf Gut Lindenhof ankommen und die kleine Gesellschaft in den Blick nehmen, die hier „die Folgen von Krieg und Krise“ durchleiden. Eine privilegierte Familie, die in Dekadenz und Lethargie verharrt. Doch für die Dokumentarfilmer Sabrina und Viktor eignen sich die Gutsbewohner perfekt für ihr neues Projekt. Aber mehr und mehr geraten die beiden hinein in eine Geschichte aus Liebe, Lüge, Intrige, Verrat, Mord und Rache. Helden und Waffenmeister, Königinnen und Kämpferinnen, ein Schwert, ein Schatz, eine Tarnkappe: Wir sind mittendrin im Nibelungen-Mythos.

„Rang und Drang“ haben Marcel Luxinger und Ivana Sokola ihre Überschreibung des Nibelungen-Stoffes genannt, mit der Regisseur Gustav Rueb am Freitagabend die Spielzeit im Großen Haus eröffnete. Eine Tetralogie – wie bei Richard Wagner, allerdings mit 3 Stunden 20 bei weitem nicht so lang wie diese. Trotzdem gäbe es Kürzungspotenzial.

Intensiv hat sich das Autorenduo mit dem großen deutschen Mythos befasst, dessen blutige Heldensage im Laufe der Jahrhunderte immer wieder zu propagandistischen Zwecken ideologisch aufgeladen wurde. Der immer wieder neu und anders erzählt wurde – von Hebbel zu Hohlbein, von Fritz Lang zu „Game of Thrones“. Wie eine Schnitzeljagd durch die Rezeptionsgeschichte könnte man diesen Abend auch verstehen. Und Regisseur Gustav Rueb mixt munter Genres und theatrale Mittel.

Unbedingt anschauen: Kinder spielen Siegfrieds Heldensage

Als eine Art Prolog lässt er Kinder des Nibelungen-Spielclubs im Foyer in einer Kurzfassung den Mythos nachspielen. Mit Trommeln und Jahrmarktgeschrei, mit Blutsee, Gold und wehrhaften Königinnen. Und natürlich mit Siegfried, dem Helden.

Wer das verpasst hat – was sehr schade wäre, denn das Spiel ist fabelhaft gemacht –, dem bietet die Inhaltsangabe der Heldensage eine kleine Erinnerungshilfe, die vor Beginn von Teil 2 im Großen Haus auf den Eisernen Vorhang projiziert wird. Und dann geht es schnurstracks ins Jahr 1925 und auf das Gut Lindenhof, ein Reiterhof, wo die Geschwister Krimi, Günther und Paul mit ihrem Cousin Hagen leben, in die Abgründe ihrer Vergangenheit blicken und sich nach einer Zukunft sehnen – und vor allem nach jemandem, der all ihre Probleme löst, sie aus ihrer Trägheit, ihrer Langeweile, ihrer Schwermut (oder eher Schwerfälligkeit) befreit, ihnen Bedeutung verleiht.

Ins Jahr 1925 fiel die Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten der Weimarer Republik, die NSDAP wurde neu gegründet, die Stimmung im Land war nervös nach all den Unruhen, Regierungswechseln, der Verarmung des Mittelstandes nach der Hyperinflation von 1923. Deutschland befand sich an einem Wendepunkt. Der Ruf nach einem starken Mann an der Spitze des Staates wurde immer lauter. Hier also kommt Viktor ins Spiel, der neue Siegfried. Einer, der die Zeichen deutet und zu seinem Vorteil nutzt. Ein Manipulator, der falsche Versprechungen macht und dabei alle Register zieht. Der sich Krimi holt und Gut Lindenhof dazu, der die anderen Männer zur Vergewaltigung seiner Ex-Frau Sabrina (Widergängerin von Brünhild) ermutigt und Großmachtträume träumt – bis er in einen Hinterhalt gelockt wird und stirbt.

In einem dritten Teil fordern die Frauen Gerechtigkeit in einem Prozess. Vor allem wollen sie endlich gehört werden. Der Schluss bleibt Krimis Rache vorbehalten.

All das wird beziehungsreich und mit vielen literarischen und cineastischen Echos zu einem Plot verwoben, der sich von einer Daily Soap zum Drama und schließlich zur Politparabel entwickelt und auf der Folie deutscher Geschichte viel über die Gegenwart erzählt.

Grandioses Ensemble

Spannend ist das. Nicht nur, weil Regisseur Gustav Rueb opulente Bilder dafür findet, sondern weil die Texte klug Mythos und reale Geschichte verdichten – und dabei dezidiert männliche und weibliche Perspektiven offenbaren. Einer der Höhepunkte ist sicherlich Sabrinas Monolog im Prozess, den Berna Celebi so grandios zelebriert: „der große Auftritt, das entsetzliche Lamento, die Anklage, die Wahrheit“.

Alle sind hervorragend: Matthias Gärtner als toxisch männlicher Held, der sich als skrupelloser Demagoge entpuppt, Peter Rahmani als überforderter Günther, Sebastian Kremkow als verweichlichter Kunst-Dilettant Paul, Jan Gebauer als manierierter Taktierer Hagen, Teresa Trauth als kompromisslose Richterin und Edda Wiersch als umwerfend plappernde, Barbie- feministische Krimi. Zusammen bilden sie ein perfekt aufeinander abgestimmtes Ensemble, das in Florian Barths variabler, holzvertäfelter Wohnlandschaftsbühne mit schwankenden Böden und verschiebbaren Wänden auf hohem Energielevel agiert.

Nina Kroschinskes Kostüme verbinden Zitate aus den 20ern mit heute und punkten mit Wow- E􏰀ekten. Und Sergej Maingardt scha􏰀t interaktive Klangwelten aus düsteren Atmosphären, subtilen Emotionen und treibenden Beats.

All das fügt sich in knapp dreieinhalb Stunden zu einem faszinierenden, unterhaltsamen Abend, der den deutschen Mythos neu befragt: Vielstimmig klingen Dichterworte von Goethe bis Grönemeyer heran – und verhandeln unsere Probleme im (Tarn-)Gewand des Nibelungen- Sto􏰀es. 1925 und 2025: Multikrisen, das Erstarken der Rechten, die gespaltene Gesellschaft. Dafür gibt es am Ende langen Applaus.