Staatstheater Darmstadt
Ein Ozeandampfer namens Rechtsstaat
Das Gemeinwohl ist wichtiger als der Furor des Einzelnen: Gustav Rueb inszeniert am Staatstheater Darmstadt eine demokratisch beseelte „Orestie“.
FAZ, 06.02.2017, von MATTHIAS BISCHOFF, DARMSTADT
Die Stille tut weh. Das Nichtstun ist ein Ärgernis. Nach knapp drei Stunden, in denen im Kleinen Haus des Staatstheaters Darmstadt reichlich Kunstblut geflossen und im Minutentakt gemordet worden ist, geht das Saallicht an, und das Theater leistet sich einen sehr seltenen Moment: Es passiert absolut nichts. Wir sollten, so verkündet Samuel Koch als Göttin Athene, nun als Bürger darüber abstimmen, wie das jahrzehntelange Schlachten in der Atridenfamilie beendet und zugleich den Racheansprüchen der Erinnyen Genüge getan werden könne. Doch natürlich geschieht nichts, Beklommenheit macht sich breit, die Schauspieler starren ins Publikum, die Zuschauer starren zurück, die Minuten dehnen sich zur Ewigkeit.
Man mag die erzwungene Reflexionspause, die das private Familiengemetzel zu einer Sache der demokratisch verfassten Bürgergemeinschaft macht, für eine allzu volkspädagogische Maßnahme halten und die vorangegangenen zweieinhalb Stunden als Beweis anführen für die dem Menschen innewohnenden, letztlich von keinem Rechtsstaat dauerhaft eindämmbaren dunklen Triebe. Doch Gustav Ruebs Inszenierung setzt mit ihrem Finale im gleißenden Licht ganz ohne ironische Brechung auf die Kraft des unabhängigen Gerichts, auf die vor 2500 Jahren im Athen des Aischylos entwickelte Demokratie.
Das zaghafte neue Pflänzchen Demokratie
Damit zeigt Rueb, der die vielgelobte Neuübersetzung der „Orestie“ von Kurt Steinmann für seine Zwecke bearbeitet hat, die Geburt der Demokratie aus dem Grauen des Mythos. Die unselige Abfolge von Mord und Sühnemord, die der Logik des über die Atriden verhängten göttlichen Fluchs folgt, zeigt er als grausige ewige Wiederkehr des Gleichen, als zirkelhaften Wiederholungszwang. Nur scheinbar opfert Agamemnon (Thomas Meinhardt) seine Tochter im Dienst des Kriegsglücks, und Klytaimestra (Karin Klein) ermordet ihn eben nicht aus persönlicher Verletztheit. Beide folgen dem Orakelspruch, private Motive werden vom mythischen Zwang überlagert. Erst recht gilt das für den verzweifelten Vaterrächer Orestes (Mathias Znidarec), dem Aischylos einen Moment des Innehaltens gönnt und den es immerhin fragen lässt, ob der Mord an der Mutter unumgänglich sei. Doch das Unentrinnbare der göttlichen Gesetze zwingt die Menschen zu Handlungen und liefert ihnen dafür die Beruhigung, dass alles mit göttlich-rechten Dingen zugehe, dass keine persönliche Freiheit eine andere Handlungsweise ermöglicht.
Weil aber der freie Wille Voraussetzung für ein neues Menschenbild ist, erzählt Ruebs Darmstädter „Orestie“ vom Untergang der intriganten blutigen Götterwelt und dem zaghaften neuen Pflänzchen Demokratie. Die Inszenierung geht sehr freizügig mit der Chronologie um, springt vom Mord an Agamemnon direkt vor zur Rache der Erinnyen (Katharina Susewind, Mattea Cavic, Anabel Möbius) an Orestes, lässt dann den lebenden Agamemnon stolzgeschwellt aus Troja zurückkehren, um gleich darauf Orestes seine Mutter mit dem Hammer erschlagen zu lassen. Besonders die Morde werden mehrfach gespielt, immer wieder kommt der blutüberströmte Orestes auf die Bühne, immer wieder werden die zerschundenen Leichen aufgebahrt. Eindrucksvoll wird die Nichtexistenz der Zeit im Mythos durch die inszenierte Gleichzeitigkeit offenbar.
Ein besonderer Theaterabend für Darmstadt
Der Abend überzeugt auch durch die Grundidee, das ganze Geschehen auf einem nicht mehr ganz modernen Ozeandampfer spielen zu lassen. Daniel Roskamp hat dafür eine aufwendige Drehbühne mit viel Requisiten vollgestopft, man lümmelt in Fauteuils, prostet einander mit schweren Gläsern zu. Die Erinnyen sind adrett als Hostessen gekleidet, und immer wieder fasst der Kapitän (Simon Mazouri) in einer Videoeinspielung nicht gezeigte Ereignisse zusammen. An Kochs Rollstuhl ist eine Kamera befestigt, was Athene für den Gerichtsprozess am Ende aufzeichnet, ist ebenfalls auf der Leinwand über der Spielfläche zu sehen. Ansonsten plätschert dort das Meer an einen Felsenstrand. Es gibt unentwegt etwas zu sehen, Zeichen, Bedeutungen, Anspielungen, wohin man schaut.
Mit der Uraufführung der Neuübersetzung hat Darmstadt einen besonderen Theaterabend auf die Bühne bringen wollen, und das ist vollauf gelungen. Vom ersten Moment an spürt man den großen Atem dieses äonenweit entfernten und erschütternd nahen Dramas. Die Geschmeidigkeit der Übersetzung trägt ebenso wie ihre Unmittelbarkeit und die Verständlichkeit, die der Text durch die Verse hindurch behalten hat, gewiss nicht wenig zum Gesamteindruck des Abends bei, entfaltet durch Ruebs eigenwillige Collage jedoch nicht ihre ganze poetische Kraft.
Man muss sich in diesen Tagen davor hüten, in allen Dingen Anspielungen auf aktuelle Ereignisse in den Vereinigten Staaten zu sehen. Doch dieser demokratisch beseelte Aischylos-Abend zeigt, was überwunden werden musste und immer wieder neu zu überwinden ist. Das Programmheft lässt keinen Zweifel an dieser Lesart, wenn es im Finale einen „Sieg des Gemeinwohls über den Furor des Einzelnen“ sieht und die institutionelle Rechtsprechung preist, die „Abwägung, Argument und vielseitige Anerkennung an die Stelle von schneller, egomaner Abreaktion von Affekten setzt“.