Frankfurter Rundschau

Staatstheater Darmstadt: Die Königin stirbt

Von Judith von Sternburg



Gustav Ruebs Inszenierung holt aus Tom Lanoyes „Königin Lear“ alles raus.

Tom Lanoyes Shakespeare-Überschreibung „Königin Lear“ rennt durch Spiegelung und Modernisierung der vertrauten Konstellation offene Türen ein. Im Detail fehlt ihr trotz des Versmaßes ein paar Jahre und Produktionen später – nach der rasanten deutschsprachigen Erstaufführung am Schauspiel Frankfurt (2016) – sogar etwas der Pfiff. Aber das Staatstheater Darmstadt hat ihn, und in der trefflichen Inszenierung von Gustav Rueb ist es auf einmal wieder spannend und berührend wie lange nicht. Im Zentrum zwei Schauspielerinnen und eine wirkungsvolle Idee, aber auch insgesamt ist alles stimmig.

Karin Klein ist die Titelheldin, die nun als Unternehmerin ihren Besitz auf ihre nichtsnutzigen Söhne verteilt, während der jüngste, dritte leer ausgeht wie einst Cordelia. Kleins Königin tritt als prächtige Seniorchefin auf, aber zugleich als Mensch mit offenem Visier, eine echte Lear, hinter deren polteriger Eitelkeit eine bezaubernde Arglosigkeit steckt. (Verdiente) Macht kann eine kuriose Unschuld haben. Natürlich rechtfertigt das nichts, aber die Königin (wie Shakespeares König) zahlt zweifellos zu teuer für die beiden Sünden namens Dummheit und Eitelkeit. Karin Klein wirft sich in Verwirrung und Wahnsinn, die beim Flamen Lanoye klinisch sind, und siehe an: In Darmstadt wird den sehenswerten schauspielerischen Darstellungen einer Demenz eine wirklich starke hinzugefügt.

Das sichtbar gemachte Wort

An ihrer Seite steht Mona Kloos als ihre nüchterne Pflegerin Olga, stiller Narr und lebhafte Gebärdendolmetscherin. Ohnehin gibt es durchgängig Übertitel, aber Rueb setzt die Gebärdensprache als grandioses theatrales Mittel ein. Mit der Zweisprachigkeit werden die Konversationsstück-Passagen nicht nur einfach anregender (das auch!). Durch den zart überpointierten mimischen und gestischen Ausdruck werden dahergeredete Worte auch mit Leben gefüllt und zugleich mit Witz der Hohlheit überführt.

Kloos’ Dolmetschen ist (wie jedes Dolmetschen, darum ist es wichtig, dass der Text immer sichtbar bleibt) automatisch ein Kommentar. Dazu übernimmt Kloos, die ja auch Tänzerin ist, überhaupt die Übertragung der Vorgänge in Bewegung. Zur Verzweiflung der Königin und zur Musik von Heiko Schnurpel (auf der Bühne: der Schlagzeuger Elija Kaufmann) tanzt sie regelrecht und fulminant.

Um die beiden fügt es sich einleuchtend, keiner ist anwesend, für den sich die Regie und damit das Publikum nicht interessieren würde: Marielle Layher ist mit hoher Intensität der spröde jüngste Sohn. Thorsten Loeb und Béla Milan Uhrlau sind die älteren Nichtsnutze, die Eigenheiten entwickeln wie die abscheulichen, aber beunruhigend menschlichen Schwiegertöchter, Edda Wiersch als großgoldlockige und Anabel Möbius als pseudosensible Variante. Hubert Schlemmer zeigt einen zutiefst seriösen Kent von nebenan.

Eindrucksvoll, wie beiläufig bewiesen wird, dass während der Sanierung des Kleinen Hauses (bis Ende 2023) die Schauspielsparte in den Kammerspielen eine vollwertige Spielfläche finden dürfte. Rueb und Jan Heck (Video) nutzen eine Livekamera mit Verve und auch zur Erweiterung des Raums nach draußen. Dass es zwischendurch sehr kühl wird, ist sozusagen 4D-Kino.