Mittelbayerische Zeitung

Am Theater Regensburg: Ein schweigender Junge versetzt die Welt in Aufruhr

von Claudia Böckel

Klimawandel, Verantwortung, die Macht der Medien: „Nach dem Essen“ verhandelt große Fragen. Jetzt brachte Regisseur Gustav Rueb das Stück erstmals auf die Bühne: ein dichter 90-Minuten-Abend, der das Publikum fordert.

Der Plot: ein Junge isst nicht mehr. Und spricht nicht mehr. Die Verwerfungen, die in seiner Familie sichtbar werden, machen scheinbar das Stück der Autorin Simone Kucher aus. Jetzt wurde „Nach dem Essen“ im Theater am Haidplatz uraufgeführt, als sehr dichter 90-Minuten-Abend, der vielfältige Bezüge anbietet. Die Inszenierung von Gustav Rueb fordert, wirkt manchmal überfrachtet. In den vielen Überlagerungen fehlt Klarheit, dennoch macht der Abend nachhaltig Eindruck, auch wegen überzeugender Darsteller und des Bühnenbilds, das poetisch und zugleich wandelbar ist.

Von Sich-zu-viel-Kümmern bis zur Vernachlässigung geht die Bandbreite der Reaktionen in der Familie, von wildem Aktionismus der Mutter bis zur Erzählung der Großmutter, die eigene Erfahrungen und Begebenheiten aus ihrer Kernfamilie mit dem Geschehen um Jonas extrapoliert.

Die Autorin verwebt Jonas’ Geschichte der Verweigerung mit anderen Mythen aus der Geschichte: Natürlich spielt Jonas im Wal aus dem Alten Testament herein, der „Jona ohne s“ und seine Geschichte der Wiederauferstehung. Alles ist vielfach miteinander verwebt und verstrickt. Kafkas Geschichte vom Hungerkünstler leuchtet im Hintergrund, die Protestbewegungen unserer Zeit werden zitiert und thematisiert.

Die Wege moderner Kommunikation via Instagram, die die Nachricht von Jonas’ Verweigerung über die Welt verbreiten, nachdem seine Schwester Billie einen Post auf Instagram gesetzt hat, verteilen auch die Begeisterung für ein Kind, das das eigene Leben zur Rettung der Welt einsetzt. Ob bewusst oder unbewusst, ist dabei unerheblich.

Braucht es Kinderkreuzzüge?

Die Autorin berichtet im Interview im Programmheft, sie sei beim Schreiben von der Fridays for Future Bewegung und der Pandemiezeit beeinflusst gewesen, von der Frage: „Was passiert, wenn ein junger Mensch sich existentiell verweigert? Innehält? Und das im Privaten – für sich – ohne etwas dadurch zu wollen, ohne Message.“ Brauchen wir Kinderkreuzzüge heute, ein Idol wie Greta Thunberg oder einen wie Jonas in dieser Geschichte? Simone Kucher schreibt erfolgreich Hörspiele, Theaterstücke und Prosa. Sie war zum Stückemarkt des Berliner Theatertreffens eingeladen, zu Theatertagen und Koproduktionen an namhaften Bühnen. „Nach dem Essen“ entstand als Hörspiel für den WDR und kam in Regensburg erstmals auf die Bühne. Regie führte Gustav Rueb, für Ausstattung und die Videos, die die Bühne weit öffnen, war Florian Barth zuständig, fürs wirkungsvolle Licht David Herzog.

Videos sind das tragende Element der Inszenierung. Sie bringen die Weltmeere herein, auch wenn es sich real vor allem um den Donaustrand handelt. Als Einspielung tauchen immer wieder die acht Sirenen auf – in weißen Anzügen, verletzt und versehrt, dargestellt von Studierenden der Akademie für Darstellende Kunst Bayern. Schon Platon hat die Sirenen in kosmologischem Kontext erwähnt. Ihnen spricht man die Fähigkeit zu, alles auf der Erde Geschehene zu wissen und offenbaren zu können. Ursprünglich könnten sie Todesdämonen sein, sie besitzen androgyne Züge, sind weiblich, tragen Bart.

Alle reden, einer schweigt

Hier wird auch die Gestalt des Fisches verortet, der vielleicht der Auslöser ist für Jonas’ Verweigerung: Er hat ihn aus dem Wasser gezogen, jetzt liegt er auf dem Tisch, spricht zu ihm, ganz real. Überhaupt finden alle viele Worte in diesem Stück. Die Eltern (sehr überzeugend: Michael Haake als Vater, Kathrin Berg als Mutter) verbalisieren ihre Ratlosigkeit ausufernd, die Schwester Billie (macht ihre Entwicklung nachvollziehbar: Anna Kiesewetter) und der Fisch (intensiv und mitreißend: Lilly-Marie Vogler) durchleben Veränderungen in diesen 90 Minuten des Stücks. Ein Reporter (ihm nimmt man das Aalglatte ab: Max Roenneberg) plappert effektheischend und berichtet für die Öffentlichkeit über Jonas. Max Roenneberg spielt auch noch – manchmal übertrieben gebrechlich – die gebeugte Großmutter.

Nur einer sagt nichts: Jonas. Er sitzt am Strand, vor seinem Bildschirm, hat keinen Kontakt, lässt sich durch nichts beeindrucken. „Sich einfach auszulöschen vor aller Augen!“ rufen die Sirenen. Es beeindruckt ihn auch nicht, welche Wellen sein Verhalten auf der Welt auslöst, dass sich der Hungerstreik der Kinder und Jugendlichen wie eine Epidemie verbreitet. Der Reporter erkennt: „Ihr Sohn macht Zeitgeschichte.“

Die Gesellschaft im Spiegel

Die Eltern räsonieren über einen früheren Madrid-Aufenthalt, gleich kommt Diego Velázquez’ Gemälde „Las Meninas“ auf seitliche Bildschirme, mit all seinen Überlagerungen und Vieldeutigkeiten. An Stelle des Königspaares im Bild sehen wir den leeren Zuschauerraum des Theaters, in dem wir alle sitzen. Und die Sirenen auf der riesigen Videotafel stellen gleich das Gemälde als lebendes Bild nach. An Stelle des Malers: ein Stativ mit Kamera.

Ganz am Schluss findet Jonas (anrührend: Jonas Julian Niemann, der auch für die Musik verantwortlich ist) doch noch Worte und singt nahezu tonlos „Der Traum ist aus“ von Ton Steine Scherben: „Das war das Paradies – Der Traum ist aus – aber ich werde alles geben damit er Wirklichkeit wird“. Das ist der intensivste und bewegendste Moment des Stücks.