Nachtkritik

Wilhelm Tell: Im Reich des Schmerzes - Staatstheater Darmstadt

Wann ist ein Mann ein Mann?

Alles haben die Männer eingefädelt, und so war das schon immer: Der Schweizer Autor Marcel Luxinger bürstet Schillers "Wilhelm Tell" und die Legenden vom Kampf um die Freiheit gegen den Strich.

Von Michael Laages

25. November 2023. Vor etwas mehr als fünf Jahrzehnten erschien ein schmaler blauer Suhrkamp-Band, mit dem der Dramatiker Max Frisch mal wieder ins Fach des Essayisten wechselte und den Gründungsmythos des eigenen Heimatlandes unter die Lupe nahm. Die gemeinschaftsstiftende Legende vom freiheitskämpferischen Attentäter Wilhelm Tell erzählte er neu – als "Wilhelm Tell für die Schule". Er versuchte zu klären und zu erklären: Wie bloß war der lokale Vertreter des Habsburger Reiches in den eher ungewollten, aber tödlichen Konflikt mit einem einfachen Jäger und Bauern in tiefster Provinz geraten? Und was hatte dieses eher private Drama mit dem aufrührerischen Bund der Eliten in den abgeschiedenen Provinzen rund um den Vierwaldstätter See zu tun? Immerhin hatte der ähnlich aufrührerische Schriftsteller Friedrich Schiller einen Theater-Klassiker gestrickt aus den historisch eher ungesicherten Vorkommnissen – weit weg in Deutschland, wo ein Bund wie der der legendären Schweizer noch in fernen Sternen stand…

Geschichte, hin und her gebogen

Es tut ganz gut, im Vorfeld der aktuellen Schiller- und Tell-Version des Schweizer Autors Marcel Luxinger fürs Staatstheater Darmstadt einen Blick ins blaue Bändchen von damals zu werfen. Denn schon Max Frisch deutete die Fabel auf der Basis von fleißigem Studium historischer Quellen; und bei Licht betrachtet, frei von Mythen und Nationalismus, war das Ergebnis ernüchternd – weder war Herr Tell ein Held noch der lokale Landvogt und Stellvertreter der Macht, ein gewisser Herr Gessler (der wohl nie so hieß), ein schlimmer Despot. Die Geschichte wurde immer von neuem und so lange hin und her gebogen, bis Heldentum und Freiheitskampf daraus wurde. Schließlich kam dann noch Herr Schiller und erfand ein Helden-Epos – zur Nutzanwendung daheim in deutschen Landen.

Einiges von Frischs Quellenstudium taucht auch jetzt bei Marcel Luxinger auf; etwa die durchaus nicht gerichtsfeste Geschichte von den Missetaten eines anderen Reichsverwesers der politischen Habsburger Kolonialmacht, der eine Bäuerin zu sich in den Badezuber gezwungen haben soll und für dieses Ansinnen vom herbei geeilten Bauern mit der Axt erschlagen wurde. Und Stauffacher, einer der politisch einflussreichen Strippenzieher in den vier Waldstätten, den Provinzen am See, hatte das eigene Haus offenkundig illegal gebaut … und leistete Widerstand gegen Besteuerung. Bei Luxinger wird er zum Gründer einer Bank. Vom "Volk" aber, von einfachen Leuten wie dem Bauern und Jäger Tell, war beim aufrührerischen Schwur auf der Rütli-Wiese nie die Rede.

Tief im toxischen Gedankengut

Luxinger zeigt wie Frisch damals eine extrem zurück gebliebene Gesellschaft, gefangen in den Vorstellungen davon, was früher alles besser war und warum. Männer haben fast exklusiv das Sagen Ende des 13. Jahrhunderts, also im ausgehenden Mittelalter; und deren Aufstand ähnelt eher zeitgenössischem Reichsbürger-Wahn. Immerhin ist auch Stauffachers revolutionär und national zeternde Gattin Gertrud eine vom Rütli-Clan, allerdings beim Schwur nicht dabei; während Tells Frau Hedwig die zwölf Fehlgeburten beklagt, die sie erlitt, und darum Sohn Walter vor dem Männer-Wahn des Gatten Wilhelm bewahren will. Der steckt nämlich tatsächlich am allertiefsten drin im toxisch-männlichen Gedankengut und sucht nach der "Essenz", mit der der Mann erst recht zum Manne wird. Wie Grönemeyer sang vor vierzig Jahren: "Wann ist ein Mann ein Mann?"

Walterchen allerdings, Tells Sohn, der eigentlich schon im Aufbruch weg von zu Hause ist, aber in der zentralen Szene auf dem Markt im Flecken Altdorf erstaunlicherweise dann doch bereit wäre, sich den Apfel vom Kopfe schießen zu lassen, verfällt gegen Ende der herrscherlichen Larmoyanz im Hause Gessler und wäre womöglich gern dessen Geliebter – wenn Papa den traurigen, immer gelangweilten Mann in der Dauerkrise nicht erschossen hätte. Allerdings in keiner "hohlen Gasse" kurz vor Küßnacht, sondern in der Badewanne – der politisch modern denkenden Gessler-Figur ist im Grunde immer alles egal, Hauptsache, er kann endlich mal baden; am liebsten im See, aber tatsächlich eher unter der Dusche und in der Wanne; hier, im Schaumbad – erwischt ihn der Pfeil aus Tells Armbrust. Aus den oberen Reihe im Publikum der Darmstädter Kammerspiele stapft da der Held herunter zum Tatort Bühne – und sieht aus wie ein Yeti.

Quelle für irgendeine bessere Zukunft

Etwas angestrengt wie bei Schiller (und wie schon beim Vorbild nicht wirklich überzeugend) lässt Luxinger final auch den Wiener Habsburg-Attentäter Parricida auftreten, um Tell dem Staatsterroristen gegenüber im Glanz des privaten Rächers und Freiheitshelden glänzen zu lassen. Aber im Streiten um Macht bleibt allen Männern längst nur noch sehr schaler Ruhm.

Luxinger mischt sich markant in den aktuellen Diskurs – und macht dafür die Figur der Berta von Bruneck zur zentralen Handlungsträgerin; historisch wohl eine wohlhabende Begleiterin des Statthalters von Habsburgs Gnaden und zugleich heftig verehrt vom lokalen Jung-Politiker Ulrich von Rudenz, war sie bei Frisch bloß eine plappernde Party-Schranze, die schon Schiller sehr frei erfunden hatte. Hier wird sie zur etwas arg neunmalklug belehrsamen Frau aus dem Heute und Hier, die das Geschehen nicht nur kommentiert, sondern auch vorantreibt mit reichlich Frauenpower von heute. Amüsanterweise übrigens schreibt Luxinger so die Sage vom Helden weiter; jetzt als Geschichte der Heldin, die nur noch nicht richtig zum Zuge kam. Aber immerhin ist sie hier die Chronistin, schreibt alles auf und will (anders als der Revolutionserfinder Schiller) authentische Quelle sein für irgendeine bessere Zukunft.

Bunt-schräger Ideenreichtum

Gustav Rueb setzt auf ziemlich viel Spaß im politischen Scharmützel; sowohl bei den grenzdebilen Mannsbildern der Provinz-Eliten wie auch beim "Essenz"-Kerl Tell und im Umfeld von Frau Berta, Herrn Gessler und dem jungen Rudenz. Der darf sogar mal "mit der Tür ins Haus fallen" – indem er wirklich hinter einer Tür steht und "ins Haus" fällt. Daniel Roskamp hat ein feines Wohnzimmer auf der Seitenbühne platziert, inklusive Video-Kamera, während die ganze Breite der Kammerspiel-Bühne einigen Berg-Panoramen vom Vierwaldstätter See gehört. Gelegentlich wird die Wald-Idylle (in der das Ensemble zu Beginn auch Bäume jodeln lässt zum Alphorn-Klang) von einem Fahrstuhl gestört, der heraufzukommen scheint wie in die Waldidyll- und Wellness-Oase eines Luxus-Hotels. Nina Kroschinske verpasst den hinterwälderischen Pseudo-Revoluzzern Western-Kostüme – auch das ist ein ulkiger Einfall. Der alte Attinghausen sitzt derweil im Rollstuhl, hat einen Rollator dabei und hängt am Tropf.

Mit dem bunt und schräg wirbelnden Ideenreichtum der Inszenierung hält die Energie des Textes allerdings nicht immer mit. Und zuweilen wirkt sogar der immer wieder über das Material hereinbrechende Diskurs über Männlichkeit wie bloße Zugabe. Aber der Autor hat’s halt so gewollt. Die Männer waren immer und an allem Schuld. Hätten sie nur mehr auf Hedwig, Gertrud und Berta gehört! Die Schweiz wäre eine andere geworden … vielleicht.