NWZ

PREMIERE AM OLDENBURGISCHEN STAATSTHEATER

Aus der Vogelperspektive ins Verderben

Von Dennis Schrimper

Einen aufwühlenden Theaterabend erlebte nun das Premierenpublikum von „Welcome to Paradise Lost“ im Oldenburgischen Staatstheater. Darin wird auf beeindruckende Weise der Klimawandel verhandelt.

Der von Menschen gemachte Klimawandel ist da – er lässt sich weder rational wegargumentieren noch lässt sich die Angst davor mit einem tiefen „Ommm“ wegmeditieren. Seine fatalen Auswirkungen auf unseren Planeten, die wirkmächtigen Bilder – Dürre auf der einen, Überflutung auf der anderen Seite – und der damit einhergehende Diskurs sind wohlbekannt. Mit dem steigenden Meeresspiegel steigt auch die Flut der medialen Bilder, die doch endlich Anlass zum Handeln sein sollte. Doch das Gegenteil scheint der Fall: Klimakonferenzen bleiben meist ergebnislos, die Schreckensnachrichten aus aller Welt schockieren kaum noch.

Unbequeme Wahrheit

Da braucht es eine neue Erzählweise, um den stumpf gewordenen Blick wieder zu schärfen und das routinierte Weggucken und Ausreden-Finden zu durchbrechen. „Welcome to Paradise Lost“ schafft genau das. Unter der Regie von Gustav Rueb feierte das Stück kürzlich im Kleinen Haus des Oldenburgischen Staatstheaters Premiere. Unbequem, definitiv ohne Wohlfühl-Faktor, aber dafür umso eindringlicher rüttelt es auf und mahnt zum Aufbruch. Eine Botschaft, die offenbar nicht bei allen Theatergängern verfing, denn einige suchten noch während der Vorführung das Weite.

Ausreden bemüht

Das persische Versepos „Die Konferenz der Vögel“ aus dem 12. Jahrhundert, verfasst von Farid ud-Din Attar, diente Falk Richter als Inspiration für sein 2021 in Kassel uraufgeführtes Bühnenwerk, das die Vorlage um eine weitere Ebene – das Leben und Handeln der Menschen – ergänzt. Die Vögel, machen sich nach einer Konferenz und illustren Ausreden doch noch auf den beschwerlichen Weg zu ihrem König, dem Simurgh, damit er ihr Reich vor dem Verderben bewahre. Dabei erleben sie aus der Vogelperspektive die pervertierte Menschheit, die Profitstreben über alles stellt, die Natur ausbeutet und lieber Likes auf Instagram und Co. sammelt, anstatt den sterbenden Planeten zu retten. Wie werden die Vögel darauf reagieren? Gibt es eine Rettung?

Das grandiose Schauspielerinnenensemble bestehend aus Zainab Alsawah, Veronique Coubard, Caroline Nagel, Katharina Shakina und Helen Wendt nimmt mal die Perspektive der Vögel, dann die der Menschen ein, um der Kapitalismus- und Gesellschaftskritik in Richters Stück eine Stimme zu geben. Zu dem polyphonen Bewusstseinsstrom gehören auch ein reflektierender Diskurs über das Bühnengeschehen selbst und die direkte Interaktion mit dem Publikum, die einer gewissen Komik nicht entbehrt, etwa wenn Caroline Nagel in den hell erleuchteten Zuschauerraum bekennt, dass sie gern mal wieder „eine richtige Rolle“ spielen würde.

Hohe suggestive Kraft

Das Bühnenbild ist minimalistisch, aber durch interaktives Videodesign höchst wirkungsvoll gestaltet. Dazu gehören mehrere mobile LED-Panels und ein abgeschrägter LED-Boden, der die Bewegungen der Schauspielerinnen mithilfe einer Infrarot-Kamera und per Live-Tracking wiedergibt. Und da gibt es einiges zu sehen, denn viele auf den Punkt durchchoreografierte Strecken entfalten hohe suggestive Kraft.

„Welcome to Paradise Lost“ wühlt auf, wird ohne Pause durchgezogen, gönnt dem Zuschauer in den rund 100 Minuten kaum eine Verschnaufpause. Hoffnungsvolles ist in dem „verlorenen Paradies“ rar gesät. Trost in der Dystopie, im „Silent Spring“ – im Frühling, in dem kein Vogel mehr singt – gibt es letztlich in der Musik. Die Schauspielerinnen stimmen den Bach-Choral „Wir setzen uns mit Tränen nieder“ an – einer von vielen Gänsehautmomenten. Die Auflösung des Abends ist dann – wenig überraschend – doch dem Prinzip Hoffnung gewidmet. Vermag die Menschheit die Klimakatastrophe tatsächlich noch abzuwenden? Antworten gibt es am Ende nicht, aber wohlverdienten Applaus für einen ergreifenden Theaterabend, der zwar bekannte Diskurse und Bilder verhandelt, aber durch die Umsetzung beeindruckt.