Zwischen Reihenhaus und Rüstung: Gefeierte Premiere von „Ajax“ im Deutschen Theater
Am Sonnabend ist die Bühne im Deutschen Theater in Göttingen zum Schlachtfeld geworden: Unter Regie von Gustav Rueb verschmelzen in „Ajax“ moderner Prepper- und antiker Kriegswahn. Das Publikum zur Premiere war begeistert.
Göttingen. Ein Krieg, der sich jahrelang zieht, der zahlreiche Morde, Verbrechen und Terror fordert, dessen eigentlicher Grund im Blutvergießen verschwindet. Eine Beschreibung, mag sie vage sein, die jedoch auf einen KonAikt nach dem anderen in der Menschheitsgeschichte zutriCt. SchmerzhaE prägnant zeigt Thomas Freyers „Ajax“ diese Konstante auf, als in seinem Stück die sophoklessche Antike des Helden Ajax mit der Reihenhausgegenwart deutscher Vorortfamilien verschwimmt.
Die Premiere im Deutschen Theater am Sonnabend verwüstet die Bühne und lässt aufgewühlte Zuschauer zurück – welche die Arbeit von Regisseur Gustav Rueb mit Standing Ovations würdigen. Heiner Müller lässt grüßen: Die Antike wird nicht bloß zitiert, sondern neu aufgeladen.
Antiker Chorus spricht in Adidastrainingsanzügen
Zu Beginn des Stückes stehen die Schauspieler in den Seitenlogen, sie reden zeitgleich und überlappend in einer Flut aus Wörtern. „Plötzlich schrecken aus dem Schlaf“ oder „Gänsehaut unter dem grünen Schlafanzug“ sind zu verstehen. Dieser Chortext erinnert daran, dass Freyer hier ein antikes Stück als Vorlage nutzt.
Die Bühne selbst trennt eine Holzwand. Dahinter liegt der Trojanische Krieg, ein Bühnenprospekt ist der Hintergrund. Dieser zeigt das Kriegsgeschehen, als das trojanische Pferd für Verwüstung sorgt. Die herabgelassene Holzwand dient als ProjektionsAäche für ein deutsches Einfamilienhaus – anfangs klar getrennt, verschwimmen die Räume zunehmend.
Ausgangslage ist wie folgt: in blauen Adidasanzügen, hier Symbol deutscher Spießigkeit, treten Michael (Bastian Dulisch) und Christiane (Judith Stößenreuter) und ihr zehnjähriger Sohn Jonathan (Paul Trempnau) aus den Seitenlogen auf die Bühne. Sie sprechen von einem Krieg – trotz des modernen Settings oCenbar vom trojanischen.
Held und Anti-Held in einem
Von Beginn sind beide Zeiten miteinander verknüpE, wobei die alten Griechen – verkörpert von Marina Lara Poltmann als Tekmessa, Lou von Gündell als Eurysakes, Gerd Zinck als Teukros und Charlotte Wollrad als Ajax – bunte Ganzkörperanzüge und Rüstungen tragen. Das Kostüm von Nina Kroschinske hebt die Anachronistik der Verschmelzung von Ereignissen, die Jahrtausende auseinander liegen, heEig hervor.
Dabei ist Wollrad mehr als Legende oder als Geist von Ajax zu verstehen, sie wirkt als silbrige transzendentale Erscheinung. Bastian Dulisch im blauen Adidasanzug spielt sowohl den Antihelden, den Familienvater, als auch den Helden, den Krieger, der nach Jahren an der Front wahnsinnig wird und Suizid begeht.
Zwei Kriegskinder
Die Parallelen sind überdeutlich: Beide Väter, Michael und Ajax, verlieren sich im Krieg, beide Mütter, Christiane und Tekmessa, emanzipieren sich zum Schluss, beide Söhne, Eurysakes und Jonathan leiden unter ihren männlichen Vorbildern.
Michael entfremdet sich so von seiner Familie, wird zum Verschwörungstheoretiker und Prepper und baut einen Bunker auf der Bühne; auf der Projektion des Hauses sieht man vor Bunker nichts anderes mehr. Sein Sohn distanziert sich über die Pubertät hinweg von ihm, taucht ab im Drogenkonsum und im Chaos der eigenen vier Wände. Eurysakes, das „Kriegskind“, entwickelt wiederum eine fanatische Obsession mit Gewalt.
Die Verschmelzung der Ebenen, die mit Dulischs Doppelrolle gipfelt, beginnt behutsam. Stehen die Figuren parallel auf der Bühne, spielt Dulisch mit beiden Parteien, die einander nicht sehen, – und brilliert in beiden Rollen. Auch die Ereignisse haben Parallelen: Als die Griechen Troja mit dem Holzpferd überlisten, möchte sich Michael mit seiner Frau versöhnen – und schenkt ihr ein kleines Pferd.
„Krieg ist überall. Troja ist überall“
„Ajax“ ist ein Spektakel für alle Sinne: In perfekter Abstimmung wird Text gesprochen, wird innen und außen um den Saal gerannt, werden Neonröhren geschwungen, Bunker aus Holz gebaut und Kampfszenen mit roten Wollfäden gespielt, wird gesungen und geschrien. Beeindruckende Bilder werden produziert, als Kleinfamilienidylle und Kriegsmythen zerbrechen. Erschreckend ist: Der Krieg Trojas, der sich so leicht auf Michaels Wahn übertragen lässt, könnte etliche aktuelle KonAikte beschreiben.
Zehn Jahre Krieg werden gespielt, „Krieg ist überall. Troja ist überall“, sagt Michael passend. Man könnte seine Doppelrolle als Wahn abtun. Das ist jedoch nicht die Kernaussage: Dass antike KonAikte sich so leicht mit heutiger Sprache einfangen lassen, zeigt, wie Selbstzerstörung – ob Suizid, Kriegslust, Drogenkonsum, blutige Schlachten – fester Bestandteil der Menschheitsgeschichte ist.
Am Schluss steht die Freiheit
„Ajax“ endet jedoch nicht mit Gewalt und alten Männlichkeitsbildern, sondern mit Christiane und Tekmessa, die zueinanderanden. Beide Frauen reAektieren immer wieder ihre eigenen Rollen als auch den Fanatismus ihrer Männer und befreien sich zum Schluss. Dass Emanzipation ebenso wie Krieg die Jahrtausende überbrückt, gibt einen HoCnungsschimmer. „Sie verstehen mich nicht? Das macht nichts. Macht gar nichts“, sagt Christiane lächelnd.