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Eine raffinierte Renovierung

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Als Friedrich Schiller in den Jahren 1803 und 1804 das Drama „Wilhelm Tell“ verfasste,

herrschte in Europa Napoleon Bonaparte, und die unterworfenen Länder sannen verzweifelt

auf eine befreiende Tat. So lässt sich dieses Stück durchaus als plakatives Revolutionsstück

deuten, dass die Rollen von vornherein eindeutig festlegt. Landvogt Gessler stellt als

Vertreter der verhassten Fremdherrschaft von vornherein in jeder Hinsicht das Böse dar, und

das nicht nur metaphorisch sondern ganz persönlich. Wilhelm Tell ist der Held, zwar

einerseits gebrochen in seiner politischen Distanz, aber andererseits auch ein Vertreter der

ganz natürlichen, individuellen Freiheit. Sein rächender Todesschuss auf Gessler bietet die

abschließende Genugtuung für die (deutschen) Rezipienten. Die Vertreter der Kantone –

Stauffacher, Melchtal und Fürst – sind aufrechte Bürger, die für eine selbstbestimmte,

freiheitliche Regierungsform der Schweiz eintreten. Es versteht sich, dass Schiller aus

Zensurgründen die Schweiz und ihren spätmittelalterlichen Gründungsmythos in den

Vordergrund stellte, obwohl er die von Frankreich unterworfenen Ländern und hier speziell

Deutschland meinte.

Da diese schlichte, fast naive Sicht auf Repression und Widerstand nicht mehr der

heutigen Sicht auf die Welt entspricht, hat der Schweizer Autor Marcel Luxinger Schillers

Drama im Auftrag des Staatstheaters Darmstadt überarbeitet, und Gustav Rueb hat

diese Version mit dem zusätzlichen Untertitel „Im Reich des Schmerzes“ in den

Kammerspielen inszeniert. Schon das Bühnenbild begrüßt die Zuschauer

mit einem ironischen Vexierspiel um den Mythos. Da sieht man einen dunkelgrünen Wald, wie ihn die deutsche Romantik nicht geheimnisvoller hätte darstellen können, und davor stehen und lagern archaische Figuren in grünen Graskostümen. Dazu spielt eine Musikerin auf einem die halbe Bühne

einnehmenden Alphorn Schweizer Bergmotive. Wer die Ironie dahinter nicht bemerkt, wird

dann aber sehr schnell durch Klartext belehrt. Denn Rueb verzichtet nicht nur auf eine

eindeutige zeitliche Zuordnung, sondern stellt die Welt der Herrscher und die der

Freiheitshelden von vornherein als diametralen Kontrast dar.

Während der vollbärtige Wilhelm Tell (Milan Béla Uhrlau) in mittelalterlicher Felljacke

zwecks Ernährung der Familie mit der Armbrust grummelnd auf Wildjagd geht und

seine händeringende Frau (Karin Klein) das kärgliche Haus hütet, sitzt Landvogt Gessler

(Daniel Scholz) auf einer Nebenbühne im Ambiente des 21. Jahrhunderts in der

Badehose am Tisch und räsoniert abgeklärt bis ernüchtert über die rückständige Bevölkerung

dieses bergigen Landes. Berta von Bruneck (Edda Wiersch) lebt in einer Art platonischer

Wohngemeinschaft mit ihm und deckt den praktischen und eher machtorientierten Teil dieser

Gemeinschaft ab. Gessler ist bei Marcel Luxinger zwar kein „Gutmensch“, aber auch alles

andere als ein brutaler Despot. Er sieht sich eher als paternalistischen Entwickler dieses

engstirnigen Volkes denn als Besatzer. Insofern skizziert Luxinger (und spielt Daniel Scholz)

die Kolonialmächte der vorletzten Jahrhunderte und ihre immer noch herrschende

Grundhaltung. Man sieht sich als überlegene weil weiter fortgeschrittene Elite, die der Welt

Fortschritt schenkt – und dabei selbst auch nicht zu kurz kommt. Auch der „Deal“ mit dem

jungen Rudenz als Schweizer Herrscher von Gesslers Gnaden kommt hier eher pragmatisch

daher denn als perfide Machtpolitik. Gessler alias Luxinger legt dann im Gespräch mit Berta

auch die Schwächen des Schweizer Freiheitsdranges offen. Sie wissen nur, wovon sie frei

sein sollen, haben aber keine Ahnung geschweige denn einen Plan, wie sie diese Freiheit

konstruktiv nutzen wollen. Wilhelm Tell wird zum Sprachrohr dieser selbstbezogenen

Planlosigkeit, wenn er sich demonstrativ jeglicher aufständischen Aktivitäten enthält, nur

seinen eigenen Interessen nachgeht und ansonsten Schillers Sprüche („die Axt im Hause

erspart den Zimmermann“, „Der Starke ist am mächtigsten allein“) wie anachronistische

Idiome zwar als kurze Solotexte demonstrativ, aber nie ins Lächerliche ziehend präsentiert.

Luxinger entlarvt damit auf subtile Art den Klischeecharakter dieser Männlichkeit

beschwörenden Redewendungen.

Luxingers Dekonstruktion von Schillers Drama aus heutiger Perspektive zieht sich quasi

lückenlos durch die gesamte Aufführung. Aktuelle Assoziationen erfolgen dabei nie plakativ,

sondern stets indirekt. So wandeln sich die Kostüme der freiheitsliebenden Schweizer von

der urigen Bauerntracht zu nietenbesetzten Jeansanzügen und Stetson-Hüten. Die

Amerikanisierung wächst proportional zum Freiheitsgrad. Am Ende erkennen dann

Stauffacher und Genossen sogar die Vorteile der neuen Freiheit und planen

Bankgründungen, um Landsleuten und Ausländern die Sicherheit ihrer Vermögen zu

garantieren. Ein Schelm, wer hier an das Schweizer Bankwesen denkt; doch man sollte nicht

glauben, dass Luxinger bei all diesen mehr oder minder hintergründigen Anspielungen an

heutige Verhältnisse nur die Schweiz meint. Es ist wie bei Schiller: der sprach von der

Schweiz und meinte Europa, nur war damals die Zensur der Grund; bei Luxinger ist es die

Achtung vor einem – hoffentlich – denkenden Publikum.

Auch die Sprache bezieht Luxinger in Schillers Dekonstruktion mit ein. Ganz ohne

denunzierende Absicht verwendet er über weite Strecken – gerade bei den Schweizer

Freiheitskämpfern – Schillers Originaltext, und auch Regisseur Rueb sowie die Schauspieler

vermeiden dabei jeden Anflug von Lächerlichkeit. Doch dagegen setzt er Gesslers

Welt, die zwar auch Schiller spricht, aber ebenso längere, mal lakonische, mal saloppe, mal

sogar deftige Ausflüge in die heutige Umgangssprache wagt. So entsteht ein ganzheitliches

Transformationserlebnis von Schillers idealistischem Pathos bis zum bisweilen zynischen

Sarkasmus heutiger Realpolitik.

Und auch privates Konfliktpotential handelt Luxinger in seiner Version ab. Tells Sohn

Walther (Sebastian Schulz) ist hier kein gläubig zum Vater aufschauender Knabe, sondern ein

aufmüpfiger junger Mann, der seinen Vater innerlich bereits ins ideologische Altersheim

abgeschoben hat und keinem verbalen Konflikt mit ihm aus dem Wege geht. Und Tells Frau

ringt nicht nur die Hände und barmt um ihre Männer, sondern sie tischt ihrem Mann auch

klare Worte über die Rollenverteilung und die patriarchalische Macht auf. Auf der anderen

Seite ist Berta von Bruneck keine willige Braut, die Rudenz zum Ende hin freudig ihre Hand gewährt, sondern sie kommt einerseits als

machtbewusste, kühl berechnende Frau daher, die Gessler immer wieder an sein Risiken

und (Macht-)Chancen erinnert, andererseits als heiratsunwillige Frau, die ihr Singledasein

der unbefriedigenden Rolle als Anhängsel des künftigen Regierungschefs vorzieht.

So wird Schillers angestaubter „Wilhelm Tell“ in der Darmstädter Version zu einer höchst

aktuellen Verhandlung über Macht, den ambivalenten Freiheitsbegriff, einem die Akteure

berauschenden Männlichkeitsidol und die Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern und

den Generationen. Denn nebenbei beschwert sich Walther auch noch darüber, dass seine

Generation das ausbaden muss, was die seines Vaters angerichtet hat. Kennen wir das

nicht? Und das Team hat noch weitere Anspielungen auf Lager. So stirbt Gessler nicht irgendwo in

einer hohlen Gasse an Tells Pfeil, sondern in der Badewanne, und seine Arme hängen über

die Ränder der Badewanne wie bei Marat. Noch ein Apercu zum Thema Revolution und

Freiheitsgrad. Das Ensemble leistet in dieser dreistündigen

Inszenierung Besonderes. Man merkt, dass alle voll hinter dieser Tell-Version stehen und

die Aussage möglichst eindringlich und überzeugend ans Publikum bringen wollen.

Milan Béla Uhrlau ist ein wahrhaft vierschrötiger und in seiner Unsicherheit bewusst

„männlich“ agierender Tell, Daniel Scholz spielt einen in seiner Nonchalance der Macht nicht

nur skeptischen, sondern fast schon kontraproduktiven Vertreter eben dieser Macht. Karin

Klein spiegelt all die Nöte einer Ehefrau und Mutter in einer macht- und kampfbesessenen

Welt wider, und Edda Wiersch verleiht auf ihre unnachahmliche Art der Berta von Bruneck

politischen Weitblick, Unabhängigkeit und ein intuitives Machtbewusstsein. Ali Berber spielt

den Melchtal als heutigen Hooligan mit viel Testosteron und überschaubarer Intellektualität.

Torsten Loeb gibt einen politische wendigen Stauffacher, Florian Donath einen den

Winkelzügen der Bruneck nicht gewachsenen Nachwuchspolitiker und Sebastian Schulze

einen idealistischen Sohn mit Vaterkomplex. Hubert Schlemmer muss sich dagegen leider

mit der Rolle des schlichten Walter Fürst begnügen.

Das Premierenpublikum honorierte diese „Tell“-Version mit kräftigem, anhaltendem Beifall.

Frank Raudszus