Hühner und Hedonismus
Premiere von Friedrich Dürrenmatts „Romulus der Große“ im Großen Haus des Stadttheaters
Von unserem Redakteur Ranjo Doering
HEILBRONN Das Römische Weltreich ist heruntergewirtschaftet, die verfein- deten Germanen stehen vor der Tür – doch Kaiser Romulus Augustus chillt. Als ein Held des hedonistischen und staatszersetzenden Nichtstuns hat er es sich im Palast mit einem Glas Wein und gutem Essen gemütlich gemacht, räsoniert über die Legeleistung seiner zahlreichen Hühner – ohnehin erscheint die Zucht das einzige Hobby, dem er noch mit Leidenschaft nachgeht.
Politische Ambitionen? Fehlanzeige. Er möchte die Weltgeschichte „nicht stören“, von Flucht, Krieg oder Reichszerstörung nichts wissen, der Protagonist in Friedrich Dürrenmatts Komödie „Romulus der Große“, die am Freitagabend in der Inszenierung von Gustav Rueb im Großen Haus des Heilbronner Theaters Premiere feiert. Anders sehen das Familie und Beamte. Dürrenmatts kluge und geschichtlich nur minder korrekte Parabel erschien 1949 im Bann des Nationalsozialismus und einem von den Besatzungsmächten geteilten Deutschland. Der Blick auf Großmächte, auf Politikverdrossenheit, auf Finanzkrisen, Apathie und die Absurdität politischer Führung hat aber immer noch Gültigkeit. Rueb siedelt das Geschehen in einem im Zerfall begriffenen Kaiserpalast (Bühne: Florian Barth) an: Kunsthändler Apollyon (Sabine Unger) sichert sich schon einmal die wertvollsten Büsten und Gemälde, Innenminister Tulius Rotundus (Nils Brück) verbrennt fleißig Archiv-Unterlagen.
Sammelsurium Getragen wird der Abend von Oliver Firit, der die Vielschichtigkeit von Kaiser Romulus einfängt, gleichzeitig tiefenentspannter Hühnerzüchter, liebender Vater und doch kluger Stratege ist. Sarah Finkel spielt mit Verve seine Frau Julia, die ihre Machtposition in Gefahr sieht und zusehends verzweifelt. Generell wird der Palast zum Treffpunkt eines Sammelsuriums kurioser Figuren: da wären der hysterische und völlig übermüdete Reiterpräfekt Spurius Titus Mamma (Felix Lydike), der seelenruhige Kammerdiener Achilles (mit Prinz-Eisenherz-Frisur: Stefan Eichberg), der reiche Hosenfabrikant Cäsar Rupf (mit herrlich schmierigem Grinsen: Tobias Loth) oder der nach Gefangenschaft völlig traumatisierte Ämilian (Richard Feist).
„Romulus der Große“ ist auf den ersten Blick luftig leichtes Theater ohne große Reibungsfläche. Doch in Dürrenmatts Vorlage steckt Substanz und Komplexität. Rueb umschifft den Klamauk, Dürrenmatts Sprache erhält nur selten ein Update. Bezüge zur Neuzeit gibt es auf der Bühne: Gemälde von Helmut Kohl, Angela Merkel oder Michail Gorbatschow als antike Herrscher, einen Retro-Plattenspieler oder ein Auto. Ruebs (politische) Verweise in die Gegenwart gehen vor allem in Richtung USA, etwa, wenn für das Kaiserreich – Amerika lässt grüßen – der Slogan „Make Rome Great Again“ vorgeschlagen wird, oder wenn Trumps inzwischen Ex-Kumpel Elon Musk als Odoakers Neffe Theoderich wild gestikulierend über die Bühne springt. Nach zweieinhalb Stunden mit Pause endet ein vergnüglicher Abend. Das Premierenpublikum honoriert die tolle Ensembleleistung mit langem Applaus.