FAZ

Badewanne statt hohle Gasse

Marcel Luxinger schreibt „Wilhelm Tell“ um und zerlegt am Staatstheater Darmstadt den Schweiz-Mythos

Was für ein raffiniertes Völkchen diese Schweizer sind! Ihren vorwiegend aus verletztem Männerstolz und egoistischem Gewinnstreben begonnenen Kampf gegen die Habsburger haben die kulturlosen Hinterwäldler zum heroischen-selbstlosen Freiheitskampf hochstilisiert, haben allerlei mythisches Brimborium von Schwüren und Armbrustschüssen dazu erfunden und schließlich noch einen deutschen Dichter gefunden, der ihnen daraus ein freiheitstrunkenes Nationaldrama strickt. Der hieß Friedrich Schiller, und sein Märchenstück „Wilhelm Tell.“

Nur ein wenig vergröbert lässt sich so der Inhalt von Marcel Luxinger fröhlich freihändig nach Schiller getextetem Dekonstruktionsmaschinengewehr „Wilhelm Tell: Im Reich des Schmerzes“ zusammenfassen, das jetzt am Staatstheater Darmstadt in der Regie von Gustav Rueb uraufgeführt wurde. Auf Daniel Roskamps aus urigem Bergwald und allerlei alpinen Stereotypen zusammengemixtem Bühnenbild wird mit viel Videotechnik und sogar einem veritablen Alphorn die Geschichte einer ziemlich dreisten Geschichtsklitterung erzählt, wobei Schillers Originaltext nur als schwacher roter Faden dient.

Der in Zürich geborene, in Berlin lebende Marcel Luxinger macht aus dem aufbegehrenden Bergbauernvolk eine opportunistische Männerclique, die teils mit zotteligen Bärten und Tarnfleck, teils mit Cowboyhut und -stiefeln durch die Wälder rings um den Vierwaldstättersee schweift (Kostüme Nina Kroschinske). Zur Selbstbestätigung skandieren sie hin und wieder die Anfangszeiten des Dramas: „Es lächelt der See, er ladet zum Bade…“

Das Personal ist auf wenige Figuren zusammengestrichen. Da ist der aalglatte Werner Stauffacher (Thorsten Loeb), der Möchtegern-Guerillero Arnold von Melchtal (Ali Berber), der vertrottelte Alte Walter Fürst (Hubert Schlemmer) und allen voran der nach der „Essenz des Männlichen“ suchende Titelheld (Béla Milan Uhrlau) dessen Hauptsorge seinem ungeratenen Söhnchen Walter (Sebastian Schulze) gilt. Nicht etwa, weil er dem armen Knaben einen Apfel vom Kopfe schießen soll, vielmehr weil der Junge Fleischverzehr ablehnt, nicht jagen mag und zum Grausen seines Vaters eher weibliche Tugenden für sich reklamiert. Damit wäre er der ideal Partner von Berta von Bruenck (Edda Wiersch), die hier nicht als Mittelsfrau zwischen der Habsburger und der Schweizer Welt fungiert, sondern als feministische Kommentatorin, die mit Schreibblock und spitzer Zunge bewaffnet den Machismo des männlichen Personals geisselt. Doch ihr Herz gehört wider aller Vernunft einem anderen. Wobei es dem von sich selbst eingenommenen Ulrich von Rudenz (Florian Donath), der in letzter Sekunde auf den rollenden Freiheitskampfzug aufspringt und mit ihm an die Spitze des neuen Staates kommt, anfangs wenig nützt, dass er perfekt gendert und seine Wortbeiträge korrekt mit „liebe Wäldnerinnen und liebe Wälder“ beginnt.

Ironischerweise hat Marcel Luxinger diesem Schweizer Dumpfbackensumpf ausgerechnet den Landvogt Gessler als matt strahlenden Helden entgegengesetzt, den Daniel Scholz als köstlich larmoyanten, zynisch und fatalistisch gewordenen Bonvivant mit einem Hang zum Alkoholismus darstellt. Gessler, der sich aus der kulturlosen Wälder-Einöde zurück in die Zivilisation wünscht, entlarvt den Schweiz-Mythos, er durchschaut die Geschichtsklitterung der Ur-Schweizer, er antizipiert die künftige Erfolgsgeschichte des dauerneutralen Bankgeheminisstaates und lässt sich ganz gelassen während eines Schaumbades und nicht in der berühmt-berüchtigten „hohlen Gasse“ von „Tells Geschoss“ durchbohren.

Natürlich ist in dieser knapp dreistündigen Anti-Tell-Wundertüte viel zu viel drin. Die Schlagworte purzeln im Minutentakt über die Bühne: Es geht um Identitätspolitik und Geschlechtergerechtigkeit, um Autonomiebehörde und Teilhabe, um homo versus hetero, um Kultur gegen Barbarei, kurz, um alles, was gegenwärtig die Gemüter in Wallung bringt. Dass dies trotz des Overkills durchweg Spaß macht, liegt vor allem an der immer kurz vor der Grenze zum reinen Klamauk innehaltenden Regie Gustav Ruebs, die selbst platte Gags mit witzigen Regieeinfällen veredelt und immer wieder kabarettreife Szenen kreiert, aber den Jux mit soviel intelligenter Bosheit paart, dass man die Widerhaken nicht übersehen kann. Matthias Bischoff